In seiner traditionellen Rede auf dem 21. Waldai-Forum in Sotschi am 7. November 2024 formulierte der russische Präsident Wladimir Putin die Grundprinzipien einer neuen, dauerhaften Weltordnung, um deren Formierung derzeit ein unversöhnlicher Kampf geführt wird. Darüber hinaus konkretisierte der Präsident seine im letzten Jahr auf dem Forum geäußerten Thesen.
Von Andrei Restschikow
Am Donnerstag hielt Wladimir Putin eine Rede auf der Plenarsitzung des 21. Jahrestreffens des Internationalen Diskussionsklubs Waldai. Das Thema lautete: „Ein dauerhafter Frieden – auf welcher Grundlage? Allgemeine Sicherheit und gleiche Entwicklungschancen im 21. Jahrhundert“.
In seiner Rede erklärte der Präsident, daß die frühere Weltordnung endgültig untergegangen sei „und ein ernsthafter, unversöhnlicher Kampf um die Formierung einer neuen Weltordnung im Gange ist“:
„Hier prallen die Prinzipien aufeinander, auf denen die Beziehungen zwischen den Ländern und Völkern in der nächsten historischen Etappe aufgebaut werden sollen.“
„Von seinem Ausgang hängt es ab, ob wir alle zusammen durch gemeinsame Anstrengungen ein Universum aufbauen können, das die Entwicklung aller ermöglicht und die entstehenden Widersprüche auf der Grundlage der gegenseitigen Achtung der Kulturen und Zivilisationen ohne Zwang und Gewaltanwendung löst. Und schließlich, ob die Menschheit als Gesellschaft mit ihren ethisch-humanistischen Grundsätzen weiterbestehen und der Mensch seine Menschlichkeit bewahren kann“, erläuterte Putin.
Seiner Auffassung nach zeigen die vom Westen vorgebrachten Appelle, Rußland – das Land mit dem größten Atomwaffenarsenal – strategisch zu besiegen, das ungeheure Abenteurertum der westlichen Politiker. „Ein solcher blinder Glaube an die eigene Straflosigkeit und Exklusivität kann zu einer weltweiten Tragödie führen. Allerdings stellen die ehemaligen Hegemonen, die seit der Kolonialzeit an die Weltherrschaft gewöhnt sind, zunehmend irritiert fest, daß man ihnen nicht mehr gehorcht“, betonte das Staatsoberhaupt.
In seiner Rede auf dem Waldai-Forum im vergangenen Jahr schlug Putin den Ländern vor, sich an sechs Prinzipien der internationalen Beziehungen zu orientieren, darunter Gleichheit, die Bewahrung der Vielfalt und das Streben nach einer offenen Welt. Diesmal ging der Präsident näher auf diese Prinzipien ein und erlaubte sich „ein paar philosophische Abschweifungen“.
„Die eingetretenen Ereignisse und der Zeitverlauf haben meines Erachtens nur die Richtigkeit und Begründetheit der unterbreiteten Vorschläge bestätigt. Ich werde versuchen, sie weiterzuentwickeln“, sagte Putin.
Der Präsident wies zunächst auf die Bereitschaft zum Zusammenwirken hin, denn „eine Unterbrechung der Beziehungen ist besonders gefährlich in Fällen von Naturkatastrophen sowie sozialen und politischen Umwälzungen, ohne die die internationale Praxis leider nicht auskommt. … Ein barrierefreies Umfeld, von dem ich letztes Jahr gesprochen habe, stellt nicht nur eine Garantie für wirtschaftlichen Wohlstand, sondern auch für die Befriedigung akuter humanitärer Bedürfnisse dar“, erinnerte das Staatsoberhaupt.
Für Putin stellt Vielfalt eine unverzichtbare Voraussetzung für die Nachhaltigkeit der Welt dar. „Die Weltgemeinschaft ist ein lebendiger Organismus, dessen Wert und Einzigartigkeit in seiner zivilisatorischen Vielfalt liegen. Das Völkerrecht ist eher ein Produkt des Übereinkommens von Völkern als von Ländern, denn das Rechtsbewußtsein ist ein integraler und ursprünglicher Bestandteil jeder Kultur, jeder Zivilisation. Die derzeit diskutierte Krise des Völkerrechts ist in gewisser Weise eine Wachstumskrise“, so Putin.
Seiner Meinung nach ist die neue Weltordnung nur auf der Grundlage der Polyphonie, dem harmonischen Zusammenklang aller musikalischen Themen, möglich. „Wir bewegen uns sozusagen in Richtung einer weniger polyzentrischen als polyphonen Weltordnung, in der alle Stimmen hörbar sind und – was am wichtigsten ist – auch gehört werden müssen. Diejenigen, die an einen ausschließlichen Soloklang gewöhnt sind und diesen anstreben, müssen sich an die neue ‚Weltpartitur‘ gewöhnen“, so der Präsident.
Die Entwicklung der neuen Welt könne nur nach den Grundsätzen größtmöglicher Repräsentativität erfolgreich sein, so Putin weiter. Die Angewohnheit der „Großmächte“, anderen ihre nationalen Interessen auf der Grundlage der eigenen Interessen zu diktieren, verstoße nicht nur gegen die Grundsätze der Demokratie und der Gerechtigkeit, sondern verhindere auch, daß „die akuten Probleme wirklich gelöst werden“.
Putin betonte, daß die künftige Welt gerade wegen ihrer Vielfalt nicht einfach sein wird. „Je mehr vollwertige Prozeßbeteiligte es gibt, desto schwieriger ist es natürlich, eine optimale, zufriedenstellende Lösungsoption für alle zu finden. Aber wenn man sie gefunden hat, besteht die Hoffnung, daß diese Lösung nachhaltig und langfristig sein wird“, sagte das Staatsoberhaupt.
Den Regionalorganisationen werde in Zukunft eine besondere Rolle zukommen, da die Nachbarländer „immer durch ein gemeinsames Interesse an Stabilität und Sicherheit verbunden sind. … Kompromisse sind für sie schlichtweg lebenswichtig, um optimale Bedingungen für ihre eigene Entwicklung zu erreichen“, erklärte Putin.
Darüber hinaus verwies der Präsident auf das Schlüsselprinzip der Sicherheit für alle ohne jegliche Ausnahme.
„Die Sicherheit der einen kann nicht auf Kosten der Sicherheit der anderen gewährleistet werden. Ich sage hier nichts Neues. Das steht alles in den OSZE-Dokumenten. Man muß es nur umsetzen“, erinnerte Putin und fügte hinzu, daß das Blockdenken dem Wesen des neuen internationalen Systems widerspreche, das offen und flexibel sei.
Ihm zufolge sei die NATO der einzige Block in der Welt, der „durch Zwang, starre ideologische Dogmen und Klischees zusammengeschweißt“ sei und seine Expansion in den Osten Europas nicht aufhalte. Putin betonte, daß sich innerhalb der BRICS ein Prototyp für eine neue, freie und blockfreie Art der Beziehungen zwischen Staaten und Völkern herausbildet. „Dies illustriert unter anderem auch die Tatsache, daß es selbst unter den NATO-Mitgliedern einige gibt, die – wie Sie wissen – Interesse an einer engen Zusammenarbeit mit den BRICS zeigen. Ich schließe nicht aus, daß in Zukunft auch andere Staaten über eine gemeinsame, engere Zusammenarbeit mit BRICS nachdenken werden“, so Putin.
Die Gerechtigkeit für alle wurde vom russischen Präsidenten als weiterer Punkt genannt. „Ungleichheit ist eine echte Plage in der modernen Welt. Innerhalb der Länder führt die Ungleichheit zu sozialen Spannungen und politischer Instabilität. Auf der Weltbühne löst die Kluft im Entwicklungsstand zwischen der ‚goldenen Milliarde‘ und der übrigen Menschheit nicht nur ein Anwachsen der politischen Widersprüche, sondern vor allem eine Verschärfung der Migrationsprobleme aus.“
Dabei könne aber eine dauerhafte internationale Friedensordnung „nur auf den Grundsätzen der souveränen Gleichheit beruhen“. Der Präsident widersprach denjenigen, die absolute Gleichheit als illusorisch bezeichnen. Die Besonderheit der modernen Welt bestehe darin, „daß Staaten, die nicht die mächtigsten oder größten sind, oft eine noch größere Rolle spielen als Giganten“. „Um die physikalischen Gesetze zu paraphrasieren: Man kann in der Bedeutsamkeit verlieren, in der Effizienz aber gewinnen“, betonte Putin.
Der Politiker bezeichnete die Arroganz, das heißt „das Herabsehen auf jemand anderen sowie das Streben nach unendlicher und obsessiver Belehrung“, als die schädlichste und destruktivste Erscheinung in der heutigen Welt. „Rußland hat sich nie darauf eingelassen. Das ist nicht typisch für unser Land. Und wir sehen, daß unsere Herangehensweise produktiv ist. Die historische Erfahrung beweist unwiderlegbar, daß Ungleichheit, sei es in der Gesellschaft, im Staat oder auf der internationalen Bühne, zwangsläufig negative Folgen nach sich zieht“, sagte Putin.
Die moderne Welt, fügte der Präsident hinzu, dulde nicht nur keine Arroganz, sondern auch keine Gehörlosigkeit in Bezug auf die Eigenheiten und die kulturellen Identitäten der anderen. „Um normal funktionierende Beziehungen aufzubauen, muß man zuallererst dem Gesprächspartner zuhören, seine Logik und kulturelle Basis verstehen und ihm nicht das zuschreiben, was man über ihn denkt. Andernfalls verkommt Kommunikation zu einem bloßen Austausch von Klischees, zu einer Etikettierung, und die Politik wird zu einem Gespräch der Gehörlosen“, so das Staatsoberhaupt.
Der Präsident erinnerte auch an die Wichtigkeit, unterschiedliche Weltanschauungen zu respektieren und wahrzunehmen: „Wahrnehmen bedeutet nicht, alles zu akzeptieren und mit allem einverstanden zu sein. Das ist sicherlich nicht der Fall. Vielmehr geht es in erster Linie darum, das Recht des Gesprächspartners auf seine eigene Weltanschauung anzuerkennen. Dies ist in der Tat der erste notwendige Schritt, um Harmonie zwischen den unterschiedlichen Weltanschauungen zu finden. Man muß lernen, Unterschiede und Vielfalt als Reichtum und Chance zu betrachten, und nicht als Konfliktauslöser. Auch darin besteht die Dialektik der Geschichte.“
Putin erinnerte auch daran, daß Rußland im Zusammenhang mit der speziellen Militäroperation in der Ukraine und der Konfrontation mit dem Westen nicht nur für seine Freiheit und „seine Rechte, nicht nur für seine Souveränität kämpft, sondern die universellen Menschenrechte und Freiheiten, die Existenz- und Entwicklungsmöglichkeiten der absoluten Mehrheit der Staaten verteidigt“.
„Darin sehen wir bis zu einem gewissen Grad auch die Mission unseres Landes. Jedem sollte klar sein: Es ist sinnlos, Druck auf uns auszuüben. Aber wir sind immer bereit, unter voller Berücksichtigung der gegenseitigen legitimen Interessen zu verhandeln. Dazu haben wir alle am internationalen Dialog beteiligten Parteien aufgerufen und werden dies auch weiterhin tun“, faßte der Präsident zusammen.
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Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 7. November 2024 um 23:11 Uhr zuerst in der Zeitung Wsgljad erschienen.